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8.12.2025 Ein großer Familienroman über vier Generationen und Zeiten

SABINE SCHIFFNER

taz Buchblog: https://blogs.taz.de/fremdeln/buchblog-reisen-ins-fremde

Die Kölner Autorin Mona Yahia legt 23 Jahre nach ihrem fantastischen Erstling “Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom” (Eichborn, 2002) nun ihren zweiten Roman vor und macht damit einen ganz großen Wurf.

Schon ihr erster Roman trug autofiktionale Züge. Mona Yahia, die mit ihrer jüdischen Familie als Heranwachsende aus Bagdad flüchten musste, berichtet darin von den letzten Tagen in ihrer Heimat, in der es mehr als zwei Jahrtausende lang eine große jüdische Gemeinde gab. Die Familiengeschichte der Familie Yahia wird nun im neuen Buch, wiederum auf Englisch verfasst und von Kirsten Lehmann ins Deutsche übersetzt, ausführlicher erzählt. In ihrem Buch „Vier Tage“ https://salonliteraturverlag.com/product/vier-tage/ geht sie hundert Jahre zurück und erzählt episch und spannend zugleich auf fast 600 Seiten die Geschichte einer orientalisch-jüdischen Familie, wie es sie so noch nicht zu lesen gab. Alles fängt an in Mossul. Es ist die Zeit des Ersten Weltkriegs, die Türkei war mit Deutschland verbündet. Seit April 1915 wurde im osmanischen Reich der Völkermord an den Armeniern begangen, auch dieses ein Thema zu Beginn des Buches, dessen erstes Kapitel im Jahr 1918 spielt und die Grausamkeit und Ungerechtigkeit der osmanischen Machthaber beschreibt.

Am Vorabend der Niederlage des Osmanischen Reiches kündigt der Ahnherr der Yahias, der jüdisch-syrische Arzt Dr. Yahia, der zuhause Yahim genannt wird, hin- und hergerissen zwischen der Ahnung und der Furcht davor, weil er sich geweigert hatte, Kriegsgefangene umzubringen, Probleme zu bekommen, seinem osmanischen Dienstherrn die Gefolgschaft auf. Er entschließt sich, mit seiner Familie in Mossul zu bleiben und nicht nach Istanbul zurückzukehren, so wie seine türkischen Dienstherren, die sich vor den nahenden britischen Truppen zurückziehen. Das Buch endet mit der Erzählung von seinem Enkel, der im Jahr 1992 von London nach Istanbul reist, um dort einen ganz bestimmten Teppich zu kaufen und in der Wohnung der Auktionarin ein Foto seiner Tante entdeckt, das er selber vor vierzig Jahren in einer Istanbuler Synagoge aufgenommen hat. Die fast hundert Jahre Familiengeschichte sind voller Geheimnisse und werden zusammengehalten durch die Erzählung von der Liebe der Tochter von Dr. Yahia zu seinem ehemaligen türkischen Dienstherrn. Dabei nimmt es vor allem die Perspektive der Frauen der Familie ein. Von Frauen, die sich hinter ihren Männern und in der männlich dominierten Gesellschaft verstecken und in erlernter Unterwürfigkeit verbleiben, aber auch von denen, die den Ausbruch wagen und ein freies und selbstbestimmtes Leben führen.

Mona Yahia kennt sich fantastisch aus mit der Mentalität, den Traditionen und Ansichten der jüdischen Menschen aus dem Nahen Osten, die sich nach ihrer Vertreibung aus ihrer Heimat im westlichen Israel nur schwer zurecht fanden; viel zu sehr hatten sie sich mit all ihren Gewohnheiten und Ansichten ihren muslimischen Nachbarn angepasst, mit denen sie jahrhundertelang zusammengelebt hatten. Das ist faszinierend zu lesen, wie hier die Welten aufeinanderprallen und welche Rolle die Psychologie und Psychotherapie dabei spielt. Denn dafür ist Mona Yahia, die studierte Psychologin, Spezialistin. Kenntnisreich spricht sie über Traumdeutung und Traumaverarbeitung und dringt tief in die Psyche ihrer Figuren ein. Besonders beeindruckt der Bericht der jungen Nachrichtenoffizierin Leila, der ersten Frau in der Familie, die eine Uniform trägt. Sie reist 1973 von London aus nach Israel, wo sie ihren Pflichtdienst als Soldatin antritt und wird in eine geheime Nachrichtenabteilung versetzt, die im Sinai stationiert ist. Dort bekommt sie live die letzten Stunden vor Ausbruch des Yom Kippur Krieges mit. Wie Yahia hier ein persönliches Schicksal in eine so nie betrachtete historisch bedeutsame Zeit integriert und wie genau und kenntnisreich sie es mit allen Details beschreibt, ist bewundernswert.

Das Buch, das in der Tradition von so großen Familienromanen wie “100 Jahre Einsamkeit” von einer wahrhaftigen Scheherazade geschrieben wurde, erzählt aber nicht nur die Geschichte der anfänglichen Familie Yahia, die später Smeké und am Ende der Geschichte Sopher als Familiennamen trägt, und von Menschen mit manchmal fast märchenhaft klingenden Lebensläufen, sondern es zeigt auch auf, dass über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg jüdische Gemeinden im Orient gelebt und gewirkt haben und mit ihren späteren muslimischen Nachbarn lange mehr oder minder gut Freund waren. Und es zeigt einige der Gründe für die Probleme des 20. Jahrhunderts auf; ganz zu Beginn nämlich erobern die Engländer Mesopotamien und dringen vor bis Mossul. An der Gesellschaft und an dem Land haben sie aber kaum Interesse, heißt es an einer Stelle im Roman: Was sie interessiere, sei vor allem das Öl!

Der Kolonialismus und seine Folgen und vor allem das Machtstreben gieriger Herrscher unter dem Deckmantel eines bewusst falsch interpretierten Islams machten den jüdischen Gemeinschaften im so genannten Orient den Garaus. Am Schluss des Buches sind alle Mitglieder der Familie Yahia im Westen bzw. in Israel gelandet.

Man erfährt viel in diesem Buch über das fremde Wesen „Orient“ und findet dabei auf fabelhafte Weise auch Verständnis für heutige Probleme im Nahen Osten. Mona Yahia schafft es, mit ihrer fantasievoll erzählten Familiengeschichte enorm in den Bann zu ziehen. Ich habe das Buch begeistert verschlungen.

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