WELT AM SONNTAG, Nr. 18, 5. Mai 2024, Marc Reichwein
Literaturgeschichte, anschaulich dargeboten wie in einer Live-Reportage, boomt. Das sieht man an Bestsellern wie Uwe Wittstocks „Marseille 1940“. Nun lädt uns der Autor Norbert Wollschläger dazu ein, die 1920er-Jahre im Spiegel von Erich Kästner und Kurt Tucholsky nachzuvollziehen. Beide Schriftsteller waren damals sehr erfolgreich, beide trafen sich angeblich aber nur einmal im Leben, 1930 am Lago Maggiore. Die Romanbiografie „Wetterleuchten“ setzt 1914 ein und zeigt, wie sich der völkische Ungeist durch Hitler und seine Kumpanen während der Weimarer Jahre kontinuierlich ausbreitet. Kunstvoll gestaltet Wollschläger ein anschauliches, im präsentischen „Re-Live“-Modus verfasstes Panorama, das nicht nur Kästner und Tucho schildert, sondern auch Schlaglichter auf andere Figuren der Zeitgeschichte wirft. So etwa auf den Kaufhauskönig Max Emden, der Hitler 1926 bei einem Auftritt im Hamburger Hotel „Atlantic“ erlebt – und im Nachgang beschließt, Deutschland zu verlassen. Man erfährt von gesprengten Lesungen von Tucholsky. Und von NS-Aktionen gegen Remarque („Im Westen nichts Neues“). Das Buch basiert auf gründlicher Quellenrecherche, und ist ein klug komponiertes und
lebendig ausgeschmücktes Zeitpanorama mit Humor und Sinn für das Menschliche, aber auch im vollen Bewusstsein um das, was am Himmel aufzieht. Parallelen zu heute liegen auf der Hand.